Nichts sehen

Als Kind hält man die Hände vors Gesicht und denkt, die Welt um einen herum würde nicht mehr existieren. Die meisten Menschen verlieren diese Fähigkeit auch wenn sie älter werden nicht.

Diese Erkenntnis kam mir neulich. Und obwohl sie so kurz war, wollte ich es dieses Mal nicht bei einem Tweet belassen. Sie ist zu wichtig, um in der Timeline-Unterwelt zu verschwinden. Sie schreit quasi nach weiteren Gedanken und Philosophieren.

Als Kind haben wir noch nicht die Fähigkeit, zu erkennen, dass die Welt um uns herum trotzdem existiert, auch wenn wir sie nicht sehen können. Werden wir älter, dann stellt sich irgendwann die Erkenntnis ein, dass dem nicht so ist. Dass es um uns herum weiter geht, dass das Leben auch dann besteht, wenn wir nicht daran teilhaben. Dies ist eine Gabe. Und ein zugleich ein Fluch.

Eine Gabe, weil es erfordert, über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken. Über ihn hinaus zu blicken und zu erkennen, dass es andere Formen des Daseins gibt, die wir so nicht leben können oder wollen. Es erfordert den Mut, anzuerkennen, dass wir nicht alleine sind auf dieser Welt. Dass es noch andere Menschen, Tiere und die Natur gibt und dass wir alle trotzdem auf dem selben Planeten existieren. Miteinander, nebeneinander, aber niemals völlig getrennt voneinander. Weil wir ja doch am Ende alle den selben Lebensraum teilen.

Zugleich ist diese Erkenntnis ein Fluch. Es ist eine Bürde, zu wissen, dass andere Lebewesen zusammen mit uns auf dieser Welt leben. Denn dann muss man sich mit Anderen beschäftigen. Anerkennen, dass unsere Form des Daseins nicht die einzige richtige ist. Dass es andere Formen gibt, die genauso glücklich, vielleicht sogar glücklicher oder auch unglücklicher, ihr Leben leben. Dass sie unter anderen Bedingungen leben als wir, andere Werte haben, andere Bedürfnisse, andere Ängste und andere Sorgen. Und wenn wir diese anderen Existenzen bei allem was wir tun im Hinterkopf behalten müssten, dann wären viele alltägliche Entscheidungen nicht mehr so leicht. Sondern unheimlich schwer. Davor müssen wir es schützen, und so blenden wir die anderen Leben einfach aus. Um selbst leben zu können.

Also legen wir, ähnlich wie das kleine Kind, die Hände vor die inneren Augen und vergessen, dass es eben noch andere, uns zum größten Teil fremde, Lebensformen gibt. Indem wir mit so agieren, die anderen ignorieren, ergeben sich eine Reihe von unschönen Konsequenzen. Wir sind intolerant, weil wir uns nicht vorstellen können, dass andere anders leben als wir. Wir nehmen keine Rücksicht, weil wir uns nicht in die andere Person hinein versetzen wollen. Wir sind Ausländer- und Immigranten-feindlich, weil sie sich nicht sofort anpassen und wir uns nicht vorstellen können, wieso sie überhaupt hierher kommen. Sicher nur wegen den Arbeitsplätzen. Wie ignorieren die schlechten Arbeitsbedingungen derer, die unsere Waren produzieren. Die Arbeiter sind weit weg, so schlecht wird es ihnen schon nicht gehen. Wir gehen rücksichtslos mit der Natur um, weil wir uns nicht vorstellen können oder wollen, dass es sich auf den Lebensraum anderer Existenzen direkt auswirkt was wir tun. Wir töten andere, weil wir uns nicht vorstellen, wie diejenigen, die ihre Lieben verloren haben, leiden.

Würden wir nur öfters die Hände von den inneren Augen nehmen und anerkennen, dass wir nicht alleine sind auf dieser Welt. So wie das Kind, das irgendwann die Augen öffnet und erkennt, dass da ja noch viel mehr ist, als es sich vorstellen konnte.

 

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